«Ein weiches Herz auf harten Sohlen», so charakterisierte der einheimische Historiker und Filmemacher Gieri Venzin den Pader Placidus Spescha. Und er verstand es, am 25. März im Rahmen der TujetschVIVAcultura-Veranstaltungen, einem vollen Saal Interessierter anschaulich nahezubringen, was es mit dieser etwas rätselhaften Charakterisierung auf sich hat. Anhand von Zitaten, Bildern und dem von ihm mitgestalteten Dokumentarfilm illustrierte er die Vielfältigkeit und die Widersprüche dieser in vieler Hinsicht einzigartigen Persönlichkeit der Surselva.
Geboren 1752 in Trun verbrachte Placidus Spescha den grössten Teil seiner Lebens in der Bergwelt der Surselva. Die schroffen Felswände nahm er nicht als Begrenzung wahr, sondern als Herausforderung, sie zu besteigen, um den Blick über den Tellerrand der engeren Heimat zu öffnen. So erlebte man ihn durch Gieri Venzins Beschreibung als eigentlichen Freigeist. Mit dem Eintritt ins Kloster Disentis und dem Theologiestudium bestand für den aufgeweckten Landbuben wohl die einzige Möglichkeit, seinen Wissensdrang zu befriedigen. Zum Glück für ihn, wurde er vielfach an Aussenstellen als Kaplan eingesetzt. Fern von der Autorität der starren klösterlichen Hierarchie und der Enge der Klostermauern konnte er so seinen Leidenschaften nachgehen. Zahlreiche Erstbesteigungen zeugen von seinen bergsteigerischen Qualitäten (Rheinwaldhorn, Oberalpstock, Piz Terri….). Neugierig und offen für Natur und Mensch betätigte er sich als Strahler, als Sammler, als Geograph, Volkskundler…. Und er hielt seine Beobachtungen und Ideen zeitlebens unermüdlich fest.
Die Jahrzehnte vor und nach 1800 bedeuteten in der europäischen Geschichte eine eigentliche Zeitenwende. Die Französische Revolution fegte die Herrschaft des Adels weg, Autoritäten wurden in Frage gestellt und das einfache Volk verschaffte sich mehr Rechte. Diese Entwicklungen gingen an Placidus Spescha nicht spurlos vorüber. Er setzte sich vehement dafür ein, der Jugend Eskapaden zuzugestehen, um ihre Kreativität und Schaffenskraft zum Wohle der Gesellschaft nicht abzuwürgen. Er wandte sich gegen das Zölibat der Priester mit der Begründung, die «menschliche Verpaarung» sei eine Einrichtung Gottes und solle somit auch für Priester offenstehen. Die Lawinenkatastrophe von Selva bewog ihn, die Umsiedlung des zerstörten Dorfes in eine sichere Zone zu fordern. Ohne Erfolg – Tradition und blindes Gottvertrauen behielten Oberhand. Und für die heutige Zeit besonders bemerkenswert: Er wollte in Camischolas für die gefährdete Bevölkerung von Zarcuns und Rueras samt Vieh eine durchorganisierte, lawinen- und feuersichere Siedlung bauen. Quasi eine bäuerliche Vorform der heute diskutierten Resorts!
1816 erwies er sich in Trun als aktiver Sozialreformer. In der Hungerzeit des Jahrs ohne Sommer – eine globale Auswirkung des Vulkanausbruchs Tambora in Indonesien – erreichte er, dass Kinder armer Familien von reicheren ernährt wurden. Damit sorgte er für eine deutlich geringere Sterblichkeit als in den umliegenden Dörfern. So wird man dem Mann Gottes sicher verzeihen, dass er es hie und da verpasste, die obligate Messe zu lesen oder die Beichte abzunehmen, weil er wieder einmal auf ausgedehnten Bergtouren unterwegs war.
Es gäbe noch viele Anekdoten und Zitate aufzuführen, mit denen Gieri Venzin engagiert und mit Einfühlungsvermögen den «curios pader» charakterisierte. Mir persönlich hallen besonders noch die letzten Worte vor dem Tod dieses unerschrockenen Freigeistes nach: «Jetzt bricht die Hütte zusammen».
Hinweis zu einem weiterführenden Buch: Placidus Spescha: Beschreibung der Val Tujetsch. Edition und Einleitung von Ursula Scholian Izeti. Zürich: Chronos Verlag, 2009.
Wer sich den Film anschauen möchte, findet ihn hier: Tschà – Pater Placi a Spescha – Play RTR
Text: Markus Müller, Fotos: René Rohrer