Ein Blick in die Erdgeschichte – Wanderung über dem NEAT-Tunnel
Am 26. Juli präsentierte sich das Wetter wahrlich nicht von seiner besten Seite. Morgens um 9 Uhr lagen noch dichte Nebelschwaden über dem Tujetsch, und ein Regenschauer löste den nächsten ab. Wir Verantwortlichen mögen uns insgeheim die Frage gestellt haben, ob wir nicht doch das Ganze hätten abblasen sollen. Aber wunderbarerweise bevölkerte sich der Treffpunkt gegen 10.00 Uhr immer mehr mit interessierten Männern und Frauen. Alle fröhlich, in meist bunten Regenjacken und «bewaffnet» mit Regenschirmen oder Regenhüten. Eine Schar von knapp 25 Personen, Ein- und Zweitheimische aus Tujetsch sowie einige «Zuzüger» aus Disentis und Mumpé Medel, wollte dem Wetter trotzen und in die Kunst des «Gesteine-Lesens» eingeführt werden.
Und sie wurden für ihre Wetterfestigkeit belohnt. Mit Yves Bonanomi hatten wir einen Führer, der nicht nur über umfassende geologische Kenntnisse des Gebiets, sondern auch über die Gabe verfügt, sein Wissen anschaulich und begeisternd weiterzugeben. Auf dem Weg von Surrein bis zum Eingang des Tunnels im Val Nalps führte er uns durch rund 500 Millionen Jahre Erdgeschichte. Faszinierend ist es, wenn man darauf aufmerksam gemacht wird, dass dieses Felsstück da eine Geschichte von Hunderten von Millionen Jahren zu erzählen hätte, eines unmittelbar daneben aber «erst» 40 Millionen auf dem Buckel habe. Man fragt sich unwillkürlich, was diese sich wohl gegenseitig zu erzählen hätten.
An ihrer Stelle tat dies Yves Bonanomi. Er führte uns zurück in die Zeit der Alpenbildung, als vor 160 Millionen Jahren die adriatisch-asiatische und die europäische Platte auseinanderdriftete und sich das Urmittelmeer (Thetys) bildete, die Platten sich später aber wieder zusammenschoben, beim «Zusammenprall» die eine über die andere glitt und sich zum Gebirge auffaltete. Die andere dagegen wurde ins Erdinnere gedrückt, dreissig, fünfzig Kilometer tief. Gesteine und Kalkablagerungen schmolzen, veränderten sich durch Hitze und Druck, drangen teilweise als Magma oder als Vulkanasche wieder an die Oberfläche, wurden abgetragen….
Bei vielen von uns machte das Bild vom unerschütterlichen «ewigen» Gebirge nach solchen Erklärungen wohl Platz für die Vorstellung von steter Bewegung, von Schmelzen und Erstarren, von Heben und Senken. Und all die damit verbundenen Geschichten manifestieren sich in den heutigen Formationen und sind für Kundige deutlich lesbar. Auch wir geologische Analphabeten konnten auf dieser Exkursion ein paar Blicke in die grossen Bücher der Erdgeschichte tun. Das bisschen Regen, das uns neben grösseren Aufhellungen begleitete, nahm sich dabei wie ein Mückendreck aus.
Während der gesamten Wanderung bewegten wir uns mehr oder weniger über dem NEAT-Tunnel. Das gab Yves Bonanomi immer wieder Gelegenheit, auf konkrete Überlegungen und Ereignissen im Laufe dieser Baugeschichte zu kommen. In wesentlichen Phasen hatte er sie als Geologe begleitet. So zeigte er die Bedeutung erdgeschichtlicher Kenntnisse für die Bewältigung von Herausforderungen dieses Jahrhundertbauwerks auf.
Text und Bilder: Markus Müller